Mittwoch, 22. Juli 2015

X und O-Wellen

Wir sehen, was wir sehen wollen und wir glauben, was wir glauben wollen.
Die Welt ist voller Legenden. Auch die Welt des Amateurfunks.
So wie uns früher erzählt wurde, Spinat sei gesund, weil er besonders viel Eisen enthalte, werden uns auch heutzutage Märchen aufgetischt.

Zum Beispiel über die Wellenausbreitung auf Kurzwelle.

Gleich ob die Antenne des OM horizonal oder vertikal sei, das was die Ionosphäre reflektiere, sei ein undefinierbares Gemisch von vertikaler und horizontaler Polarisation und lasse sich nicht eindeutig zuordnen, heißt es zum Beispiel seit Jahrzehnten.

Oder die Wellenausbreitung sei immer reziprok. So wie ein Signal von der Station A nach B kommt, so komme es auch von B nach A.

Oder: Eine Funkverbindung erfolgt immer entlang des Großkreises (kürzester Weg von A nach B auf einer Kugel). Oder in der Gegenrichtung auf dem "langen Pfad".

Beide Behauptungen sind falsch. Total falsch. Lustigerweise wissen das die Physiker seit Jahrzehnten, doch nur wenige Amateure kennen die Wahrheit.

Die Ionosphäre ist ein seltsames Ding. kein Spiegel, wie wir ihn uns vorstellen, sondern ein Plasma, ein ionisiertes Gas, über viele Kilometer verteilt und vom Erdmagnetfeld magnetisiert. Die ganze Ionosphäre wiegt nur eine Tonne. Nichts, im Vergleich zum Gewicht unserer Atmosphäre von 5'130'000'000'000'000 Tonnen. Die Ionen und Elektronen sind dort oben also sehr dünn "gesät".

Dringen Funkwellen in dieses Plasma ein, werden sie gebrochen und treten schließlich wieder mit dem Winkel aus dem Plasma aus, in dem sie eingetroffen sind. Doch jetzt kommt der Clou: Die austretende Welle ist in jedem Fall zirkular polarisiert. Also nix mit vertikal oder horizontal und es spielt auch keine Rolle, welche Polarisation die Welle bei ihrem Eintritt in das Plasma gehabt hat.

Aber es kommt noch verrückter: Die Welle wird im Plasma gespalten in eine rechtsdrehend polarisierte und eine linksdrehend polarisierte. Man nennt sie X und O Wellen.

Also doch ein Gemisch, das zurück zur Erde "reflektiert" wird, werdet ihr sagen. 

Doch so einfach ist das nicht. Für die X-Welle gilt ein anderer Brechungsindex als für die O-Welle und sie läuft im Plasma etwas langsamer. Ein Phänomen, das mit der Magnetisierung des Plasmas durch das Erdmagnetfeld zustande kommt.

Im Endeffekt tritt die X-Welle an einem anderen, entfernteren Punkt aus der Ionosphäre aus, weil sie weiter in diese eindringt. Sie wird dadurch aber auch etwas mehr gedämpft und ihre Grenzfrequenz ist höher.

Doch das ist noch nicht alles: X und O Wellen werden auch lateral (im Azimut) abgelenkt und das in entgegengesetzten Richtungen. Und zwar umso mehr, je näher sich die Stationen bei den Polen befinden.

Das kann dazu führen, dass der Beam des OM zwar für die andere Station richtig steht, doch für den eigenen Empfang eigentlich gedreht werden müsste. Je nachdem, ob nun die X oder die O Welle empfangen wird.

Das bedeutet, dass Funkverbindungen, wenn sie nicht dem magnetischen Äquator folgen, nie über den Großkreis stattfinden. Und dass sie nicht reziprok sind. Auch wenn beide Stationen die gleiche Ausrüstung haben: das Signal kann bei einem Empfänger stärker sein, als im anderen.

Zu verrückt um wahr zu sein?
Werfen wir mal einen Blick auf das Ionogramm einer Ionosonde. In diesem Fall auf die von Juliusruh in Norddeutschland von heute Morgen: In der X-Achse stehen MHz in der Y-Achse km (Höhe über der Erdoberfläche)




Wir sehen zwei Kurven: eine rote und eine grüne. Zwei Ionosphären? Nein! Die rote ist für die O-Welle, die grüne steht für die X-Welle. Die MUF in Abhängigkeit der Distanz in der untersten Zeile ist für die X-Welle angegeben. Die "brustförmige" schwarze Linie steht übrigens für die Elektronendichte.
Die Leute mit den Sonden kennen also das Phänomen.

Gut, werdet ihr sagen, aber was nützt mir dieses Wissen?
Nun, man könnte zum Beispiel einen zirkular polarisierten KW-Dipol bauen - als Inverted V - und nach Bedarf die Polarisation umschalten. Das ist kein Hexenwerk. Wenn man die richtige Welle erwischt, gewinnt man 3dB gegenüber einer linear polarisierten Antenne beim Empfang. Erwischt man aber die falsche, wäre das Signal um 20 bis 30dB gedämpft. Eine zirkular polarisierte Antenne wäre ein interessantes Experiment, insbesondere auch für NVIS-Stationen. Es gäbe da noch ein paar Fragen zu klären: Können damit u.U. das Fading oder Störungen aus der Umgebung reduziert werden?

Aber es schient mir auch wichtig, dass wir begreifen, dass Funkverbindungen über die Ionhosphäre eben nicht reziprok sind und wir zwar eine Station gut hören, aber auf der Gegenseite nur mickrig ankommen können - oder umgekehrt. Und für die Glücklichen mit den großen Beams ist es wichtig zu wissen, dass der Großkreis nicht immer die richtige Richtung ist, da die Signale auch lateral abgelenkt werden, und zwar nach links oder rechts, je nachdem, ob X oder O im Spiel sind.

Quellen: 
QST December 2010. Ionosperic propagation by Eric Nichols KL7AJ
QST March 1940. The Ionosphere and Radio Transmission
Propagation and Radio Science May 2015, ARRL Inc. ISBN 978-1-62595-027-7
Ursi.org (International Union of Radio Science)